Der freie Wille - eine nützliche Illusion?
Der Glaube, dass wir uns frei entscheiden können, hilft uns dabei, ehrlich zu sein
Die Psychologie heute berichtet in ihrer Aprilausgabe über eine Untersuchung, die in der Psychological Sciene unter dem Titel The value of believing in free will: Encouraging a belief in determinism increases cheating veröffentlicht wurde. Quintessenz: Der freie Wille mag eine Illusion sein, aber eine nützliche. Der Glaube daran, dass wir uns frei für Ehrlichkeit entscheiden können, hilft uns offenbar dabei, uns auch ehrlich zu verhalten.
Die Diskussion über den freien Willen ist momentan Mode. Offenbar zeigen immer mehr neurophysiologische Studien, dass unsere Handlungen nicht durch bewusste Entscheidungen, sondern durch unbewusste Gehirnprozesse eingeleitet werden. Das Gehirn entscheidet sich für eine Handlung, bevor der bewusste Wille dazu existiert. Aus der Sicht der heutigen Moral und gesellschaftlichen Sanktionsmechanik (Rechtsprechung) hätte das ja Fehlen am freien Willen Folgen: Man könnte sich darauf berufen, für seine Handlungen nicht verantwortlich zu sein. Und sich damit ganz aus der Verantwortung ziehen bzw. Strafmilderung zu fordern.
Die Diskussion über den freien Willen ist historisch mit der Aufklärung verbunden und versteht sich in Abgrenzung zum Weltbild des feudalen Herrschaftssystems: Menschen gehören anderen Menschen und müssen deren Willen folgen. Der Proklamation des angeborenen freie Willen führte aus dieser Abhängigkeit, weil er das Recht absprach, jemanden zu gehören ... und legte dem Einzelnen die Verantwortung auf, sich an den gesellschaftlichen Vertrag (Gesetz) zu halten. Und das ist ja bekanntlich bis heute so. Soweit die Theorie dazu. Dass es jede Menge Ausnahmen und Klimmzüge gab, versteht sich von selbst. Wer nicht in der Lage war und ist, diese Verantwortung für sich selbst zu übernehmen (Unmündigkeit, Krankheit, zeitweilige oder permanente geistige Verwirrtheit), kann für sich die verminderte (oder völlige) Schuld(un)fähigkeit reklamieren.
Wenn jemand im Auftrag oder unter Zwang gegen herrschende Gesetze verstieß oder verstößt, kann sich auch aus der Schuldfalle befreien, weil - ja weil er nicht den freien Willen hatte, sich zu entscheiden (mein liebstes Beispiel ist der Befehlsgehorsam beim Militär). Wenn nun der freie Wille wegfällt, dann sieht es in den Argumentationen düster aus.
Zugespitzt gefragt: Können wir uns ohne (neurologischen) freien Willen genügend für unsere Handlungen verantwortlich fühlen? Können wir uns soweit in unserem Verhalten auch ohne freien Willen kontrollieren, dass wir die Verantwortung dafür tragen können, auch wenn wir wissen, dass es keinen freien Willen gibt? Oder brauchen wir die Illusion, dass es einen freien Willen gibt, selbst wenn wir ihn nicht haben? Die Studie spricht für die Nützlichkeit einer Illusion des freien Willens. Aber können wir so ohne Weiteres an etwas glauben, dass es nicht wirklich gibt? Ja schon ... aber mit dem historischen freien Willen war auch eng gekoppelt der Glaube an die Wahrhaftigkeit der Wissenschaft und die Abkehr von religiösen und sonstigen Glaubensvorstellungen. Hier beißt sich der Hund in den Schwanz.
Fassen wir das Thema von einer anderen Seite an. Wann brauchen wir überhaupt den freien Willen? Eigentlich nur theoretisch oder in Grenzfällen. Nämlich immer dann, wenn eine unsere Entscheidungen bzw. Verhaltensäußerungen auffällig ist, also gegen allgemeine Normen, Moralvorstellungen, Gesetzte usw. verstößt. Dann kann uns zur Last gelegt werden, dass wir es doch besser hätten wissen müssen und nun die Konsequenzen tragen müssen. Manchmal wird das Ganze verschärft durch den eventuellen Vorsatz. Da wir ja auch anders hätten entscheiden können (freier Wille), müssen wir nun die Folgen (er)tragen. Solange unser freier Wille im Einklang mit der Norm ist, braucht ihn eigentlich keiner :).
Nun gibt es spezielle Situationen, wo es noch keine allgemein abschließende Norm gibt, oder wo es einen Normenstreit oder -konflikt gibt. Dann gehört es zumindest für eine Partei zum guten Ton, das Gegenstellen gegen die Norm durch den freien Willen als positive Eigenschaft herauszustellen, nämlich als Gewissensentscheid. Gewissensentscheide im Sinne der Normenbefolgung machen kaum was her, also definieren sich diese immer im abweichenden Verhalten. Wir titulieren das als Rückgrad haben statt Mitläufer zu sein und respektieren das "Ich kann nicht anders". Allerdings ist der freie Wille nicht ganz frei, denn ohne die entsprechende Lobby wird das nichts.
Manchmal müssen wir auch zu Kompromissen bereit sein, weil wir sonst als schwierig gelten und dann geben wir halt schon mal schweren Herzens den freien Willen auf zugunsten der vorherrschenden Meinung ...
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen