Computerspiele - die zweite Welt ...
"Ohne Anleitungen gehts nichts", sagte mir der Verkäufer: "Aber Sie finden im Internet genügend Seiten, auf denen die Lösungen der Quests beschrieben werden. Natürlich gibt es auch Zeitschriften. Aber nichts bringt Sie weitern, wenn Sie es nicht selbst ausprobieren." Das waren die Hinweise, die mir der freundliche Verkäufer mit auf den Weg gaben, als ich mir mein erstes internetfähiges PC-Rollenspiel gekauft habe. Ohne wirklich Erfahrung im Umgang mit diesem Genre zu haben, legte ich los: Erst einmal installieren und beim Server anmelden. Alles geht problemlos und nach einer Viertelstunde bin ich auf meinem ersten Quest. Was das ist? Ein Abenteuer in einer filmreifen Grafiklandschaft mit mir als Character (Spielfigur). Diese kann nach verschiedenen Merkmalen erstellt werden. Eigenschaften und Aussehen lassen sich bestimmen. Aber zurück zum Quest. Sprechblasen meiner virtuellen Mitspieler (den Ton hab ich erst später eingestellt; sie sprechen wirklich zu mir ...) erklären mir das Wo, Wozu, Warum, Wie und ... Schon habe ich meine erste Aufgabe: Ich soll mich mit bestimmten Tasten und Mausbewegungen zu einer anderen Figur hin bewegen. Problemlos geht das! Das hätte ich nicht gedacht. Wo ich doch keine Erfahrungen mit solchen Spielen habe. Es ist wirklich ganz einfach! Der nächste Schritt ist die Kommunikation mit der virtuellen Figur. Vorgefertigte Kommunikationsalternativen werden angezeigt. Eine Antwort ist richtig. Das erinnert mich an Multiple-Choice-Fragebögen. Was passiert, wenn ich falsch antrworte? Mit wird geholfen! Das gefällt! Mein virtueller Gesprächspartner erklärt mir meine nächste Aufgabe. und so geht es weiter und weiter. Es zieht mich an. Ohne Frage. Es ist schön, sich ohne technische Tiefen so einfach in einem Programm zu bewegen. Es ist selbsterklärend. Und man ist fasziniert von der grafischen Gestaltung... Nach 3 Stunden, vielen Eindrücken und sehr viel erfahrener, schaue ich auf die Uhr. Was? 3 Stunden! Die Zeit ist wie im Flug vergangen.
Das PC-Rollenspiel heißt Everquest II. Es gehört zu einer Gruppe von internet-basierten Spielen, in denen tausende von Spieler weltweit zusammen in einer viertuellen Welt zusammenspielen, d.h. sich begegnen, miteinander chatten und zusammen gegen computergesteuerte Gegener kämpfen. Diese sind allesamt böse und müssen vernichtet werden. Dabei gibt es Punkte für den bzw. die Spieler und virtuelle Ausstattungsgegenstände zu gewinnen. Mit der Zeit werden dies immer höher und wertvoller. Je höher der eigene Punktestand (Erfahrungswerte-Punkte), desto leistungsfähiger wird die eigene Spielfigur, d.h. sie kann gegen stärkere Gegner antreten (und dabei größere Belohnungen gewinnen), in zusätzlich Spielbereiche vordringen (die für noch nicht so erfahrene Spieler nicht zugänglich sind) und kann die eigene Ausstattung (materiell z.B. durch stärkere Waffen, schickere Kleidung usw. und inmateriell z.B. durch höhere Kampfkraft, Ausdauer usw.) verbessern.
Die Äußerlichkeiten kann jeder Spieler sofort bewundern. Der Erfahrungsstand auch. Zusätzlich sind Namenszusätze zu erwerben, die auch jeder sofrt sieht. Aber auch die inneren Werte lassen sich erforschen: Intelligenz, Ausdauer, Resistenzen gegen verschiedene Ungemache, usw. werden bei einer Untersuchung sichtbar. Es gibt auch Übersichtstabellen, in denen Rangfolgen gezeigt werden. Wer will dabei nicht ganz vorne dabei sein...
In den Spielpausen kann sich der Spieler in ein virtuelle Wohnung zurückziehen. Die läßt sich ausstatten. Das kostet Geld. Auch Ausrüstung, Nahrung, Waffen, Wissen, Rezepte werden gegen Geld gehandelt. Einnahmequelle sind das erfolgreiche Beenden eines Abenteuers, das Herstellen eines Produkts, das Verkaufen von während des Spiels gesammelten Geständen usw. In einer Bank können Geld und Gegenstände deponiert werden. Hat man viel Geld, kann man größere Wohnungen, Reitpferde, Haustiere, Gewänder, Wohnraumausstattungen usw. kaufen. Auch Reisen in ferne Spielwelten müssen finanziert werden. Mit dem normalen Spiel kommt man nicht so ohne weiteres an die geforderten Summen. Also muss man andere für sich arbeiten lassen. Am besten geht das in einer Spielergruppe. Ist man der Anführer der Gruppe, dann kann man bestimmen, wie die gewonnen Gegenstände verteilt werden (Lotto hießt hier der Zufall...). Noch besser ist es, eine Gilde zu gründen und von den Gildenmitgliedern einen Tribut zu verlangen. Natürlich muss man andererseits diesen einen Vorteil verschaffen, sonst würde ja keiner einer Gilde beitreten. Also stärkere Spielfiguren können schächere Spielfiguren in Auseinandersetzungen unterstützen. Für manche Kämpfe ist eine große Gruppe mit unterschiedlichen Spielereigenschaften notwendig, um erfolgreich zu sein. Bestimmte Quests sind nur für Gilden zugänglich. Das sind wohl die Hauptargumente für einen Gildenbeitritt.
Bestimmte Ausstattungen sind von bestimmten Produktionsarten abhängig. Ein Spieler entscheidet sich im Laufe seines Spielerlebens für eine Produktions-Spezialisierung. Es kann mit mehr Erfahrung immer bessere und außergewöhnliche Produkte herstellen, die auf keinem anderen Weg erlangbar sind. Solche Produkte (auch als Spielereigenschaften verwendbar) sind nur im Austausch (z.B. Handel) unter den Spielern erhältlich. Auch hier kann die Gilde eine Plattform bieten; man fertigt und tauscht diese Produkte ohne Geldverkehr untereinandern aus. Es ist daher von strategischem Vorteil für eine Gilde, wenn sie nicht nur verschiedene sehr erfahrene Kämpfertype in ihren Reihen hat, sondern auch sehr erfahrene Hersteller unterschiedlicher Profession besitzt. Dann ist der Austausch ein bereicherndes Element. Darüberhinaus gibt es auch Einkaufsvorteile für Gilden ... Es ist schon wie im wirklichen Leben: Beziehenen sind alles. Man kann übrigends die Gilde wieder verlassen. Und man kann immer nur in einer Gilde Mitglied sein.
Ein komplexes Regel-Netzwerk wird in der Spielstrategie deutlich: Neben den Regeln des Spieleherstellers werden durch die sozialen Verknüpfungen der Spieler untereinander auch zusätzlich neue Spielregeln wirksam. Diese werden immer wieder aufs Neue definiert und ausgehandelt. Tadel und Lob von Verhaltensweisen werden gelegentlich sehr deutlich in Spielergruppen artikuliert und auch über andere wird "geredet". Fehlverhalten führt zur Meidung bis hin zu Ächtung einer Spielerfigur. Konformität ist angesagt.
Natürlich bleibt es in der Spieleranonymität verborgen, wer wer wirklich ist. Aber viele kleine, versteckte Dinge kommen schon ans Tageslicht: "ich kann jetzt nicht weiterspielen ... , muss die Kinder abholen, muss zur Arbeit, muss gerade ans Telefon, bin in den nächsten Tagen im Urlaub, muss ins Bett ..." Auch Flirtversuche zwischen den Spielcharakteren gibt es. Gilden haben noch ein Paralleluniversum: Es gibt für die Gilden spezielle Webseiten, auf denen die Mitglieder Informationen zum Spiel ablegen und/oder ein Spielforum betreiben. Auch hier dreht sich fast alles ums Spiel, aber auch um Probleme mit der Software, der Technik, dem Spieleanbieter ... und auch manchmal um anderes.
Fragen nach dem Spaßfaktor des Spiels werden gerne beantwortet. Ein darüber hinaus gehende Metakommunikation im Spiel wird nur selten angetroffen und wohlwollend aufgenommen. In den Foren findet diese Diskussion schon eher statt. Der Herzinfarkt eines 13jährigen Russen, der mehr als 12 Stunden hintereinander gespielt hat, wird zynisch kommentiert: "Davon will man sich doch das Wochenende nicht verderben lassen..." 12 Stunden Spiel ist durchaus üblich. Der Spielhersteller hat für die Eltern (mit denen der Spielvertrag geschlossen werden muss!) eine Zeitbremse eingebaut; sie können ihre minderjährigen Sprößlige also zeitlich limitierenm, wenn sie es wollen (und verstehen, wie man verhindert, dass dies umgangen wird).
Everquest II läßt den Spieler normalerweise bis zu 6 verschiedene Spielcharaktere gleichzeitig verwalten. (Allerdings kann man immer nur mit einem gleichzeitig spielen auch wenn man mehere PCs hätte! Aber es gibt auch Spieler mit Account-Erweiterungen oder zweitem Account.) Damit kann man verschiedene Ausprägungen der Charakter anlegen (unterschiedliche Eigenschaften und Professionen) und verschieden Spielstufen vorhalten. Der Austausch zwischen diesen Charakteren ist limitiert: der eine fertigt für den anderen ein Produkt an, ein Geldtransfer kann zwischen beiden durchgeführt werden, eine gemeinsame Wohnung kann verwaltet werden, der eine tritt als Verkäüfer für die Produkte des anderen auf, Email zwischen beiden ist möglich...
Das Löschen einer Spielfigur führt zum Verlust der angesammelten Erfahrungpunkte und findet eigentlich nur bei kleinen Charakteren statt.
Es gibt ein Leben nach dem Tod. Neben der Heilung durch andere Spieler (Magie) gibt es ein Wiedereintreten in die Welt der Lebenden nach dem Spielertod. Sollte man also bei einem Kampf den Rückzug nicht rechtzeitig angetreten haben oder in ein Falle gelaufen sein, wird man wiedergeboren. (Sonst hätte vermutlich das Spiel nicht die risikofreudige Anhängerschaf.) Aber ganz ohne Last ist dies nicht: neben dem Schaden an seiner Ausstattung (Rüstung), die man gegen Geld reparieren lassen kann, erhält man eine "Erfahrungsschuld". Diese muß durch erfolgreiche Auseinandersetzungen abgebaut werden. In dieser Zeit gibt es so etwas wie ein Punkte-Splitting: Ein Teil der Punkte wird für den Abbau verwendet. Diese Schuld kann auch durch einen Auftrag vermindert werden: Man muß den Ort seines Todes besuchen. Dort liegt (nur einen selbst sichtbar) der alte Körper als geistförmige Erscheinung. Kommt man in die Nähe, verschwindet dieser und man wieder (fast) ganz der Alte. Es gibt möglichweise bei diesem Besuch Schwierigkeiten: Da der Tod in einer Auseinandersetzung statt fand; sind natürlich auch weiterhin die Kontrahenten in der Nähe und diese sind auch weiterhin stark genug, ein weiteres Mal den Kampf zu führen...
Die Spielgegner haben es einfacher, deren Vernichtung ist nur temporär. Je nach Aufgabe sind sie in ein paar Minuten wieder da. In bestimmten Situationen durchlaufen sie ein Metamophose: Sie sind schächer oder stärker; oder es sind neue Spielgegner. Mit Spawnen bezeichnet der Computerkenner das Starten eines neuen Programms, d.h. unter Spielern spricht man vom "spawnen" der Gegner. In besonders schwierigen Aufgaben wird dieser Sachverhalt zum Spielprinzip, nach dem Motto: abräumen, warten auf die neuen Gegener, abräumen usw. Es soll Filmklassiker geben, die nach diesem Schema ihren Spannungsbogen aufgebaut haben und damit vortrefflich unterhalten. Kennt man und funktioniert immer wieder!
Vor 20 oder 30 Jahren hätte man sich in den Sozial- und Geisteswissenschaften gefreut, eine so perfekte und zum Teil realisitsche Welt-Simulation durchspielen zu können. Lassen wir einmal die phatasievolle Ausstattung und Regelgestaltung außer betracht - diese ließe sich ja problemlos anpassen, nur als Spiel verkaufen ließe es sich nicht. Wer eine solche Spielwelt nicht kennt, sollte sich darauf einlassen, sie kennen zu lernen. Ich wage nicht darüber nachzudenken, welche Szenarien man austesten könnte... Feldforschung mit mehrern 10000 Spielern ... Testen von Einstellungen, Verhaltensweisen, strategischer Intelligenz ... Lernpyschologische Grundlagenforschung ... Suchtforschung ....
Diese Spiele eröffnen neue Welten. Auch neue Anwendungswelten! Die Spiele fördern Spielsucht!!! Und zwar nicht auf der Ebene des Zeittotschlagens wie gelegentlich bericht wird. Es ist nicht das Problem der sozialen Vereinsamung oder die Förderung von Kontaktarmut. Genau das Gegenteil ist der Fall. Hier findet Kommunikation und Kontakt statt! Und zwar nach sehr komplexe Regeln - oft komplexer als in Familie oder Schule oder Arbeitsplatz. Das Spiel ist viel weniger banal als die Wirklichkeit. Und es ist wirksam. Erfolgreiche Verhaltensweisen werden honoriert! Mißerfolge können durch Anstregung in Erfolge umgewandet werden. Sozialer Status ist mit dem Spielerfolg verknüpft. Anstrengung wird belohnt. "Werte" und "Regeln" sind reproduzierbar stabil. Schwache werden von Starken unterstützt. Helden sind Helden sind Helden. Das ist der Traum, der sich in der wirklichen Welt nicht erfüllt. Wir haben alle Teile zusammen, die in der Lerntheorie für erfolgreiche Verhaltens- und Einstellungsänderungen angesehen werden. Wir können lernen ...
Das ist noch eine Sache: Wann werden Psychologen und Sozialarbeiter - als Spieler getarnt - zur Betreuung der Süchtigen eingesetzt?
(der Beitrag wurde Mitte 2005 verfaßt)
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