Neurodidaktik

Ulrich Herrmann
Neurodidaktik

Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lernen
2006 ISBN 978-3-407-25413-9


Ach wieder einmal eine kleine Perle entdeckt. Bei Beltz kann man ein wenig im ersten Kapitel herumschmökern und es zergeht so auf der Zunge, was man da liest von Ulrich Herrmann. Ein paar kleine Ausschnitte dürfen da erlaubt sein:


Das »Jahrzehnt des Gehirns« liegt gerade hinter uns. Es war vielleicht nicht die schlechteste Einstimmung auf die deutschen PISA-Befunde und die aus ihnen hergeleitete Schul- und Bildungspolitik nach der Devise »better brains!« Änderungen des Schulbetriebs und der Schulstruktur würden bekanntlich viel Energie kosten und noch viel mehr Geld, das in den Staats- und Stadtkassen nicht vorhanden ist, verschlingen. Empfehlen wir also lieber - kostenneutral!? - neue Lehr-Lern-Methoden und Arbeitsformen, auch wenn die außerhalb der Grundschulen und der wenigen weiterführenden öffentlichen Reformschulen so recht noch niemand praktizieren kann. Das Ziel ist klar: die Schülerinnen und Schüler müssen fleißiger werden, sie sollen effektiver lernen und bessere Leistungen erbringen, sie müssen sich auf die Ausbildung bzw. das Studium nach der Schulzeit besser vorbereiten. Infolgedessen hat auch in paedagogicis die Gehirnforschung Konjunktur - denn sie verheißt den Königsweg zu »better brains« -, auch wenn ihren Einsichten in die »gebrauchs«-biographische Einmaligkeit eines jeden Gehirns - was höchst folgenreich für jede Verbesserung der individualisierten Lern- und Arbeitsverhältnisse in Schulen sein könnte - mit den aus dem Hut gezauberten landes- und bundesweiten Leistungsstandards und Vergleichsarbeiten gleich wieder der Garaus gemacht wird.
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Pädagogen und Psychologen wussten auch im ausgehenden 18. Jahrhundert, dass Lernen nur dann dauerhaft erfolgreich ist, wenn Lehren und Lernen und ihr Umfeld mehrere Bedingungen erfüllen:
- eine praktische Herausforderung, die bewältigbar ist und subjektiv Sinn macht;
- keine Entmutigungen beim Versuch, etwas zu bewältigen bzw. ein Problem zu lösen; vielmehr muss dieser Versuch - auch bei vorübergehenden Misserfolgen, denn Fehler sind Lernchancen! - von positiven Gefühlen begleitet sein;
- viele Gelegenheiten zum Wiederholen und Üben, um Sicherheit und Erfolgszuversicht zu gewinnen; denn »Übung macht den Meister«;
- Anspannung und Entspannung im Wechsel;
- individuell zugemessene Anforderungen, weil Unterforderung durch Langeweile Lernverdruss bewirkt und Überforderung durch Druck Lernwilligkeit mindert oder - durch fortgesetzte Misserfolge - gar verhindert;
- individuell von den Kindern bestimmte Arbeits- als Lernzeiten, weil vor allem Zeitdruck Angst vor Versagen erzeugt und damit das Gehirn »blockiert«.
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Pädagogiker, Didaktiker und Methodiker wussten immer schon: Was jemand sich merken, was er lernen, später können soll, das muss etwas mit ihm zu tun haben: ihn betreffen, berühren, verändern, mit einem Wort: Es muss emotionale Qualität haben!


Und schließlich noch ein paar schöne »Gehirn-Aussagen« zum Thema:


Das Gehirn »sagt«: Ich tue und kann und bewirke etwas und lerne, dass ich noch mehr kann - wenn man mich lässt. Mein Wohlbefinden steigt in dem Maße, wie ich meine Neugier befriedigen kann. Mit meinem Wohlbefinden steigt meine Merk- und Lernfähigkeit.
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Das Gehirn »sagt«: Was soll das? Muss ich das wissen? Und wie lange? Aus dem Rhythmus von Lernen, Testen und Vergessen entnimmt das Gehirn die Regel, mit dem »Schulwissen« nicht das Langzeitgedächtnis zu »belasten«, da spätere Verwendungszusammenhänge nicht »erkennbar« sind.
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Das Gehirn »sagt«: Ich bringe etwas zuwege, und deshalb fühle ich mich wohl. Das möchte ich öfter erleben - sonst klinke ich mich aus und gehe entweder auf stand-by-Schaltung oder auf Tagtraum-Reisen.
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Das Gehirn »sagt«: Endlich werde ich richtig beschäftigt, weil mein Lernen nicht durch eine sinnlose oder sinnwidrige Informationsflut behindert wird, die mich zum Abschalten zwingt.
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Das Gehirn »lobt«: Diese strukturierte »Lernumgebung« hilft mir, meine eigenen Strukturen werden stabiler und zugleich differenzierter. Ich habe das schöne Gefühl der Selbstentwicklung.


Als hätten wir es nicht schon immer gewußt. Wer nun Lust nach mehr verspürt, der schau mal bei BELTZ vorbei. Schön, schön ... und wenn nun alle den Zusammenhang kennen und sich doch keiner dran hält? Wer soll das denn dann umsetzen? Die Eltern? Die Schüler? Die Lehrer? Die Schulaufsicht? Die Politiker? Die Mächtigen in der Gesellschaft? Das ist die bittere Seite. Und kann das Gehirm nicht auch unter 'schlechten' Bedingungen zur Höchstleistung auflaufen? Irgendeiner müßte nun anfangen. Na dann mal los ....